Das Argument auf Grund der Schönheit: Kann Evolution unseren ästhetischen Sinn erklären?

Neuerdings merke ich, dass ich, dank der COVID-19 Pandemie mehr Zeit als üblich vor dem Fernseher verbringe. Ich bin nicht überzeugt, dass mehr glotzen gut ist, aber ich habe mit meinen Lieblingsserien aufholen können.

Eine Serie weit oben auf der Liste meiner Lieblingsserien heutzutage ist das Sitcom aus Kanada Kim’s Convenience. Basiert auf dem gleichnamigen 2011 Schauspiel von Ins Choi handelt sich das Sitcom um eine Einwandererfamilie aus Korea, die in Toronto wohnt und dort einen Nachbarschaftsladen betreiben.

In der Folge Best Before”, Appa, der traditionelle, meinungsstarke und ungehobelte Patriarch streitet sich mit seiner 20-jährigen Tochter darüber, ob man abgelaufene Dosen Ravioli verkaufen darf. Janet ist Kunststudentin und sehr frustriert mit der Verpflichtung ihrer Eltern an die Traditionen Koreas ihre Tendenz als Eltern, sie übermäßig zu betreuen. Sie fleht ihren Vater an, die abgelaufenen Produkte nicht zu verkaufen, weil sie Menschen krank machen würden. Aber Herr Kim beharrt darauf, dass die Ravioli nicht schlecht sind. “Vor dem Datum war das beste, aber danach sie sind immer noch ziemlich gut.”

Die Einschätzung “nicht das Beste, aber immer noch ziemlich gut” beschreibt mehr als abgelaufen Ravioli Dosen. Sie beschreibt auch Erklärungen.

Oft gibt es konkurrierende Erklärungen für einen gewissen Sachverhalt, ein Ereignis in der Geschichte des Lebens oder ein Naturphänomen. Und jede Erklärung hat Stärken und Schwächen. Unter diesen Bedingungen ist es keine Seltenheit, dass man die beste Erklärung unter den Konkurrierenden sucht. Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass es nicht so leicht ist, wie man denkt, die beste Erklärung zu erkennen. Zum Beispiel: Ob man eine Erklärung für die “beste” oder “nicht die beste, aber ziemlich gut” hält, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderen von der Weltanschauung.

Ich habe gefunden, dass dieser Perspektivenunterschied hält, auch als ich mit Skeptikern über das Argument für Gott auf Grund der Schönheit gesprochen habe.

Die Schönheit der Natur, Gottes Existenz und die biblische Sicht der Menschheit

Egal wohin wir in der Natur schauen—ob im Nachthimmel, im Ozean, im Regenwald, in den Wüsten, sogar in der mikroskopischen Welt—sehen wir eine Erhabenheit, die so überwältigend ist, dass sie uns zutiefst bewegt. Für Theisten zeigt die Schönheit der Natur auf Gottes wirkliche Existenz.

Wie Philosoph Richard Swinburne argumentiert: “Wenn Gott ein Universum schafft, handelt er als guter Handarbeiter, der ein schönes Universum schafft. Wenn das Universum dagegen aber nur entstanden ist und ohne von Gott geschaffen worden zu sein, gibt es keinen Grund zu denken, dass es ein schönes Universum sein würde.”11 Mit anderen Worten: Göttliche Tätigkeit ist die beste Erklärung für die Schönheit der Welt um uns.

Bild: Richard Swinburne Nachweis: Wikipedia

Darüber hinaus unterstützt unsere Reaktion auf die Schönheit der Welt um uns herum die biblische Sicht der menschlichen Natur. Warum nimmt der Mensch Schönheit in der Welt wahr? Als Antwort auf diese Frage erklärt Swinburne: “Es gibt sicher keinen gewissen Grund, warum, wenn das Universum durch psycho-physikalische Gesetze ohne Ursache entstand. . . es die ästhetischen Empfindsamkeiten in Menschen hervorbringen würde.” 22 Aber wenn, wie die Schrift lehrt, Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, sollen wir die Schönheit des Universums erkennen und schätzen können, da sie von unserem Schöpfer gemacht wurden, um seine Herrlichkeit und Majestät zu offenbaren. Mit anderen Worten: Swinburne und andere, die seine Weltanschauung teilen, halten Gott für die beste Erklärung der Schönheit um uns herum.

Der ästhetische Sinn des Menschen

Unsere Würdigung der Schönheit ist ein kennzeichnendes Merkmal der Menschheit. Es ist weit mehr als eine Faszination mit der Schönheit der Natur. Wegen unseres ästhetischen Sinns trachten wir danach, schöne Gegenstände selbst zu schaffen, wie Gemälden und figurative Kunst. Wir zieren uns mit Körperschmuck. Wir schreiben Musik und führen sie auf. Wir singen Lieder. Wir tanzen. Wir schreiben Fiktion und erzählen Geschichte. Viel von der Kunst, die wir herstellen, stellt imaginäre Welten dar. Und, nachdem wir diese imaginären Welten erschaffen, denken wir über sie nach. Wir vertiefen wir uns in diese Welten.

Was ist die beste Erklärung für unseren ästhetischen Sinn? Nach Swinburne behaupte ich, dass die biblische Sicht der menschlichen Natur unseren ästhetischen Sinn erklärt. Denn, wenn wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, sind wir auch Schöpfer. Und die Kunst, Musik und Erzählungen, die wir erschaffen, entsteht als Ausdruck des imago Dei in uns.

Ich bin christlicher Theist und sehr skeptisch, dass das Paradigma der Evolution uns eine überzeugende Erklärung für unseren ästhetischen Sinn bieten kann.

Obwohl er Sympathie für den evolutionären Ansatz als Erklärung für unseren Schönheitssinn hat, hilft der Philosoph Mohan Matthen, den Gesprächsrahmen fürs Problem im evolutionären Paradigma zu setzen: “Warum ist das aus evolutionärer Sicht gut? Was ist wertvoll dran, sich in Gedanken zu versinken, wenn das die Gefahren der eingeschränkten Wachsamkeit erhöht? Zeit und Kraft so zu verschwenden benachteiligt Organismen in der Evolution. Für große Tiere wie wir, ist jede unnötige Tätigkeit eine Verschwendung.” 33

Unsere Reaktion auf Schönheit schließt auch das Vergnügen, das wir erfahren, wenn wir uns in die Schönheit der Natur vertiefen, uns in Kunst oder Musik oder eine fesselnde Geschichte verlieren, ein. Aber das Vergnügen, das wir empfinden, wenn wir die Schönheit betrachten, hat nichts mit dem Überlebenstrieb zu tun, mit der Sättigung von Durst, Hunger oder dem Sexualtrieb. Wenn diese Triebe gesättigt werden, erleben wir Genuss aber der Genuss zeigt ein zeitabhängiges Profil. Zum Beispiel ist es unangenehm, wenn wir hungrig sind, aber die unangenehme Gefühle verwandeln sich in Genuss, wenn wir essen. Der damit verbundene Genuss ist aber kurzlebig und wird bald durch das unangenehme Gefühl des wiederkehrenden Hungers ersetzt.

Dagegen variiert der mit unserem ästhetischen Sinn verbundenen Genuss wenig mit Laufe der Zeit. Der sinnliche und intellektuelle Genuss, den wir vom Nachdenken über das, was wir schön finden, empfinden, dauert endlos fort.

Auf der Oberfläche scheint es, dass unser ästhetischer Sinn sich einer Erklärung innerhalb eines evolutionären Rahmen entzieht. Aber viele Evolutionsbiologen und Evolutionspsychologen haben mögliche Erklärungen aus der Evolution angeboten.

Evolutionäre Erklärungen für den ästhetischen Sinn des Menschen

Evolutionäre Szenarien für den Ursprung des ästhetischen Sinnes des Menschen nehmen einen von drei möglichen Ansätzen. Sie betrachten ihn als (1) eine Anpassung, (2) ein Nebenprodukt der Evolution, oder (3) das Ergebnis vom genetischen “Signalrauschen”. 4

1. Theorien, die auf Anpassungsmechanismen appellieren, behaupten, dass unser ästhetischer Sinn entstand, weil er eine Schlüsselrolle in unserem Überleben und Fortpflanzungserfolg als Spezies spielte.

2. Theorien, die unseren ästhetischen Sinn für ein Nebenprodukt der Evolution halten, behaupten, er sei eine zufällige, unbeabsichtigte Folge von anderen Anpassungen, die sich evolutionär entwickelt haben, anderen Funktionen zu dienen—Funktionen, die keinerlei Bezug zur Fähigkeit, die Schönheit zu würdigen, haben.

3. Theorien, die auf genetische Drift appellieren, halten unseren ästhetischen Sinn für ein zufälliges, willkürliches Ergebnis der Evolutionsgeschichte, das nur so ein Gennetzwerk hervorbrachte, das unsere Würdigung der Schönheit möglich macht.

Für viele funktionieren diese evolutionären Erklärungen besser als Erklärungen für unseren ästhetischen Sinn als die, die darauf bauen, dass der Schöpfer existiert und die leitende Rolle in der Schöpfung eines schönen Universums das auch Geschöpfe, die sein Ebenbild tragen und sein Werk genießen sollen, spielt. Aber für mich wirkt keine der Ansätze auf Grund der Evolution übererzeugend. Die bloße Tatsache, dass eine Plethora von unterschiedlichen Szenarien existieren, die den Ursprung unseres ästhetischen Sinns erklären können, deutet darauf hin, dass keine dieser Ansätze viel zu bieten hat. Wenn es wirklich eine zwingende Erklärung für den Ursprung unseres ästhetischen Sinnes durch die Evolution gäbe, hätte ich erwartet, dass eine einzige Theorie die Oberhand klar gewonnen hätte.

Genetische Drift und evolutionäre Nebenprodukte

In Wirklichkeit sind Modelle der Evolution, die unseren ästhetischen Sinn für ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt oder Ergebnis der genetischen Drift erklären wollen, weitgehend nicht überprüfbar. Und selbstverständlich wirft dieses Anliegen die Frage auf: Ist auch einer dieser Ansätze wirklich eine wissenschaftliche Erklärung?

Darüber hinaus leiden die beiden dieser Arten von Szenarien an das gleiche allumfassende Problem; nämlich das menschliche Tätigkeiten, die unseren ästhetischen Sinn einbeziehen, von höchster Bedeutung sind, für fast alles, was wir tun. Laut Evolutionsbiologen John Tooby und Leda Cosmides:

Ästhetisch-getriebene Tätigkeiten sind keine Randphänomene oder elitäres Verhalten ohne Bedeutung im Alltagsleben. Menschen in allen Kulturen verbrauchen signifikante Zeit in Tätigkeiten wie das Zuhören oder Erzählen von erfundenen Geschichten, Teilnahme an unterschiedliche Arten von imaginatives Vortäuschen, oder wir denken über imaginäre Welten nach, erleben die phantasievollen Schöpfungen von anderen und wir erschaffen öffentliche Darstellungen, die unsere erfundenen Erfahrungen anderen Menschen vermitteln sollen. Die Fähigkeit, sich in erfundene, ausgedachte Welten zu versetzen, scheint transkuturell, universell und spezies-typisch zu sein. . . Beteiligung an den phantasievollen Künsten scheint eine intrinsisch-belohnende Tätigkeit zu sein, ohne klaren, utilitären Gewinn. 5

Wir Menschen ziehen das Bewohnen von Fantasiewelten der realen Welt vor. Wir bevorzugen es, uns in die Schönheit der Welt oder unsere eigenen Erzeugungen, zu versenken Aber wie Tooby und Cosmides hervorheben, eine Besessenheit mit der Fantasie beeinträchtigt unsere Überlebensfähigkeit.6 Die ultimativen Belohnungen, die wir empfangen, sollen welche sein, die unser Überleben und unseren Fortpflanzungserfolg begünstigen, und diese Belohnungen sollen aus der Zeit gewonnen werden, die wir verbrauchen mit dem Gewinnen und Handeln auf Grund von wahrer Information über die Welt. Wir sollen tatsächlich ein Appetit für genaue Information über die Welt kultivieren und bereit sein, falsche, imaginäre Information zu verwerfen.

Im Endeffekt kann man aus Sicht der Evolution unsere Besessenheit mit Ästhetik nur für eine Fehlanpassung halten. Es wäre anders, wenn unser Schaffungsdrang, unsere Sehnsucht nach Schönheit etwas Nebensächliches in unserer Natur wäre. Weil diese Eigenschaften uns so wichtig sind und weil sie alles was wir tun und denken lenken, hätte diese Fehlanpassung von der Evolution schon längst ausselektiert worden sein. Stattdessen sehen wir genau das Gegenteil. Unser ästhetischer Sinn ist eins der dominantesten Merkmale des Menschen.

Modelle auf Grund der evolutionären Anpassung

Dieses signifikante Defizit drängt die evolutionären Szenarien, die unseren ästhetischen Sinn als Anpassungen Erklärung, in den Vordergrund. Im Allgemeinen aber lassen diese evolutionären Szenarien viel zu wünschen übrig. Zum Beispiel: Ein vielgepriesenes Modell erklärt die Anziehungskraft, die die Schönheit der Natur auf uns ausübt, als eine Eigenschaft, die unsere Jäger-Sammler-Urahnen befähigte, die besten Lebensräume zu erkennen. Wegen dieses ästhetischen Sinns bewundern wir idyllische Umgebungen mit Wasser und Bäume. Und, weil wir diese Umgebungen bewundern, wollen wir dort wohnen, was zu unserem Überleben und Fortpflanzungserfolg beiträgt. Aber dieses Modell erklärt nicht, dass wir auch Umgebungen schön finden, wo Überleben beinah unmöglich ist, von Gedeihen gar nicht zu sprechen. Solche Umgebungen sind unter anderen: Verschneite Bergeshöhen mit kargem Bewuchs; die stürmischen Wellen eines tosenden Meeres; oder die geschmolzen Lava, die aus einem Vulkanausbruch herausfließt. Diese Umgebungen sind lebensgefährlich aber ihre majestätische Schönheit übt trotzdem eine Anziehungskraft auf uns aus. Dieses Anpassungsmodell erklärt auch nicht, warum wir Tiere wie grell-gefärbte Schlangen, Löwen und Tiger so schön finden, obwohl sie uns lebensgefährlich sind.

Ein raffinierteres Modell erklärt unseren ästhetischen Sinn als Ausdruck unseres Mustererkennungsfähigkeit. Die Fähigkeit, Muster zu erkennen, spielt eine Schlüsselrolle in unserer Fähigkeit, künftige Ereignisse vorherzusagen, was zu unserem Überleben und Fortpflanzungserfolg beiträgt. Unsere Wahrnehmung von Muster ist angeboren aber sie muss entwickelt und ausgebildet werden. Daher ist unsere Betrachtung der Schönheit und unser kreatives Schaffen–Kunst, Musik, Literatur, usw.– eine Art wahrnehmendes Spiel—unterhaltsame und genießbare Tätigkeiten, die unsere wahrnehmende Fähigkeiten schärfen. 7 Stimmt dieses Modell, würde ich erwarten, dass wahrnehmendes Spielen (und daher die Faszination mit der Schönheit) in Kindern und Teenagern am ausgeprägtsten sein würde. Aber wir sehen, dass der ästhetische Sinn weit ins erwachsene Alter fortlebt. Er wird tatsächlich ausführlicher und ausgefeilter, als wir älter werden. Erwachsene neigen mehr dazu, übermäßig viel Zeit mit dem Bewundern von und Nachdenken über Schönheit, mit dem Schaffen von Kunst und Musik zu verbringen.

Dieses Modell scheitert auch am Versuch zu erklären, warum wir den Drang spüren, unsere wahrnehmenden Fähigkeiten und ästhetischen Kapazitäten weit über dem Maß der Fähigkeit hinaus zu entwickeln, das zum Überleben und Fortpflanzen notwendig ist. Wir Menschen sind besessen mit dem Drang, ästhetische Experte zu werden. Der Trieb, Expertenfähigkeiten in den ästhetischen Künsten zu entwickeln, beeinträchtigt unsere Überlebensfähigkeit. Dieser Perfektionstrieb ist eine Fehlanpassung. Expert zu werden verlangt Zeit und Aufwand. Es erfordert Anstrengung—auch Schmerz—und Opfer. Diese Kräfte sind besser dem Überleben und Fortpflanzen gewidmet.

Letztlich sind die evolutionären Modelle, die sich auf den Anpassungswert des ästhetischen Sinns berufen, sind nur halbgelungene Gute-Nacht-Geschichten der Evolution, obwohl sie ausführlich und ausgefeilt sind.

Was ist dann die beste Erklärung für unseren ästhetischen Sinn? Das hängt wahrscheinlich von Ihrer Weltanschauung ab.

Welches erklärende Modell ist das Beste? Und welches ist nicht das Beste, aber noch ziemlich gut? Wenn Sie christlicher Theist sind, finden Sie das Argument auf Grund der Schönheit wahrscheinlich zwingend. Wenn Sie aber Skeptiker sind, bevorzugen Sie wahrscheinlich die evolutionären Erklärungen für den Ursprung unseres ästhetischen Sinns.

Wie Schönheit liegt die beste Erklärung wahrscheinlich im Auge des Betrachters.

Weiterführende Lektüre

Endnoten
  1. Richard Swinburne, The Existence of God, 2. Auflage, (New York: Oxford University Press, 2004), 190–91.
  2. Swinburne, The Existence of God, 190–91.
  3. Mohan Matthen, “Eye Candy,” Aeon (March 24, 2014), https://aeon.co/amp/essays/how-did-evolution-shape-the-human-appreciation-of-beauty.
  4. John Tooby und Leda Cosmides, “Does Beauty Build Adaptive Minds? Towards an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts,” SubStance 30, no. 1&2 (2001): 6–27; doi: 10.1353/sub.2001.0017.
  5. Tooby und Cosmides, “Does Beauty Build Adaptive Minds?”
  6. Tooby und Cosmides, “Does Beauty Build Adaptive Minds?”
  7. Matthen, “Eye Candy.”